1. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
1.2. Daten und Fakten
Eine valide Aussage über das gesamte Ausmaß von Kindesmisshandlungen in Deutschland ist mangels verlässlicher und repräsentativer Daten nicht möglich. In der Regel wird auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zurückgegriffen, wobei zu beachten ist, dass in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss.12 Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, eine gesteigerte Sensibilität zu schaffen, und darauf aufmerksam machen, dass alle Ärztinnen und Ärzte in ihrer praktischen Tätigkeit mit Opfern von Misshandlungen konfrontiert werden können. Am häufigsten treten Kindeswohlgefährdungen in den ersten fünf Lebensjahren auf. Nach wissenschaftlichen Befunden sterben im ersten Lebensjahr mehr Kinder in Folge von Misshandlung als in jedem späteren Alter, 77 % aller misshandlungsbedingten Todesfälle ereignen sich in den ersten 48 Lebensmonaten (siehe auch Kapitel 3).13 Besondere Aufmerksamkeit ist deshalb in der frühen Kindheitsphase angezeigt. Übergänge von vagen Hinweisen bis zur akuten Gefährdung sind hier oft besonders abrupt.
Kindesmisshandlungen in
Deutschland und Bayern 2010 - 2017
Abbildung 1:Eine Aussage über die tatsächliche Anzahl der Opfer ist aufgrund des Dunkelfeldes nicht möglich. Die in der Tabelle dargestellte Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) enthält die Anzahl der Opfer bei Kindesmisshandlungen in Deutschland/Bayern von 2010 bis 2017 – „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ - § 225 StGB (Kinder im Alter von 0 – 13 Jahren). Quelle: Bundeskriminalamt; Polizeiliche Kriminalstatistik
Sexuelle Gewalt
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist fast immer eine Wiederholungstat, die sich über einen Zeitraum von vielen Jahren erstrecken und bis ins Erwachsenenleben andauern kann. Wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich Opfer sexueller Gewalt sind, ist nicht bekannt. Auch die PKS kann nur begrenzt Auskunft geben, da von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist, dies gilt im Besonderen für männliche Opfer (siehe auch Ziffer 3.2.).14 Für das Jahr 2017 weist die PKS 11.547 Fälle mit 13.539 Opfern sexueller Gewalt gegen Kinder in Deutschland aus (Bayern: 1.445 Fälle mit 1.647 Opfern). Die Täter sind überwiegend männlichen Geschlechts15 und kommen meist aus dem familiären und sozialen Umfeld der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche findet aber auch in institutionellen Einrichtungen statt.16 Es darf zudem nicht unbeachtet bleiben, dass sexuelle Gewalt auch durch Kinder und Jugendliche selbst ausgeübt wird (siehe unten).
Sexueller Missbrauch von Kindern
in Deutschland und Bayern 2010 – 2017
Abbildung 2: Eine Aussage über die tatsächliche Anzahl der Opfer ist aufgrund des Dunkelfeldes nicht möglich. Die in der Tabelle dargestellte Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) enthält die Anzahl der Opfer bei sexuellem Missbrauch von Kindern in Deutschland/Bayern – §§ 176, 176a, 176b StGB. Quelle: Bundeskriminalamt; Polizeiliche Kriminalstatistik
Vernachlässigung
Schätzungsweise 5 % aller Kinder in Deutschland wachsen in Lebensverhältnissen auf, in denen ein Risiko für Vernachlässigung besteht, das sind circa 30.000 Kinder jedes Geburtsjahrgangs.17 Leichtere Formen von Vernachlässigung gehen schweren Formen von Kindesmisshandlung häufig voraus. Vernachlässigung ist dabei oft Folge von Nichtwissen, Überforderung oder Unfähigkeit von Personensorgeberechtigten, angemessen auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen einzugehen.18
Vernachlässigung ist das zentrale Risiko für Kinder in der frühen Kindheit. Je jünger die Kinder sind, umso stärker und unmittelbarer schlagen die Wirkungen durch. Für Säuglinge und Kleinkinder kann Vernachlässigung schnell lebensbedrohliche Formen annehmen (z. B. bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr).19 Auch die besondere Entwicklungsdynamik in der frühen Kindheitsphase mit ihren schnell ablaufenden Reifungs-, Lern- und Anpassungsprozessen muss berücksichtigt werden. Defizite in der Eltern-Kind-Beziehung und daraus resultierende unzureichende Unterstützung des Kindes haben erhebliche negative Auswirkungen auf seine gesamte weitere Entwicklung, insbesondere was Stresstoleranz, Bindungs- und Bildungsfähigkeit anbelangt. 20
Aber auch bei älteren Kindern und bei Jugendlichen sind Fälle von Vernachlässigung ernst zu nehmen. Besonderes Augenmerk ist in dieser Phase auch auf selbstgefährdende Verhaltensweisen (z. B. Suchtmittelmissbrauch, gestörtes Essverhalten) zu legen, die erhebliche Auswirkungen auf die körperliche und psychische Unversehrtheit haben können. Besorgniserregend ist die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit akuten und schweren Alkoholvergiftungen. So wurden in Bayern im Jahr 2010 insgesamt 5.681 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 10 bis 19 Jahren aufgrund von akuten Alkoholvergiftungen im Krankenhaus behandelt.21 Vernachlässigung liegt in diesen Fällen vor, wenn Eltern entsprechende Gefährdungslagen nicht ernst nehmen und ihrer Elternverantwortung nicht nachkommen, obwohl bei weiterem ungehinderten Verlauf vorhersehbar erhebliche Beeinträchtigungen der physischen und/oder der psychischen Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen zu befürchten sind.
Kinder und
Jugendliche als Täter
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird auch von Kindern und Jugendlichen selbst ausgeübt. Eine verbreitete Form ist dabei das Mobbing bzw. Bullying.22 Dieses ist ein Gruppenphänomen, das auf dem Missbrauch sozialer Macht beruht und oft im schulischen Umfeld beobachtet werden kann, wo sich die Betroffenen einer Gruppe schwer entziehen können (siehe auch Ziffer 3.4.2.3.).23 Verschärft wird die Problematik, wenn die Neuen Medien als Mittel der Schikane eingesetzt werden (Cyber-Mobbing bzw. Cyber-Bullying; weiterführende Informationen hierzu siehe Ziffer 1.4.).
Das Problem sexuell übergriffiger Kinder und Jugendlicher rückt zunehmend in das öffentliche Bewusstsein. Eine Schwierigkeit bei der Erfassung von sexuell aggressivem Verhalten besteht darin, missbräuchliche von experimentellen sexuellen Handlungen zu unterscheiden (siehe auch Ziffer 3.2.1.). Laut PKS waren im Jahr 2010 bundesweit 23,9 % der erfassten Tatverdächtigen wegen Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter 21 Jahre alt (8.065), darunter 4 % Kinder (1.345) und 11,9 % Jugendliche (4.023).24
! Hinweis:
Zur Thematik sexualisierte Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, Ursachen und Folgen hat das Universitätsklinikum Ulm im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (StMAS) eine Expertise erstellt, die am 27. Oktober 2011 auf einem landesweiten Fachtag vorgestellt und mit Experten aus der Praxis diskutiert wurde. Aus den Erkenntnissen des Fachtages wurden konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis entwickelt. Ein weiteres Ergebnis des Fachtages ist eine Fortbildungsinitiative, die das StMAS gemeinsam mit der Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e. V. und dem Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch „AMYNA e. V.“ durchführt. Ziel ist, vor allem Kinder und Jugendliche zu stärken, Eltern zu unterstützen und Fachkräfte im Umgang mit dieser schwierigen und sensiblen Materie weiter zu qualifizieren. Die Expertise sowie weitere Informationen hierzu sind abrufbar unter www.stmas.bayern.de/jugend/gewalt.
Erklärungsansätze für Gewalt
unter Kindern und Jugendlichen
Die Ursachen für die Entstehung von Kinder- und Jugendgewalt sind vielschichtig. Erlebte Gewalt im sozialen Nahraum, fehlende Bindungsentwicklung und Frusttoleranz, schulische Misserfolge, Aufwachsen in prekären Lebensverhältnissen etc. sind Faktoren, die das Verhalten wesentlich prägen. Auch mediale Gewaltdarstellungen können ein negatives Wirkungsrisiko bedeuten. Eine besondere Rolle kommt dabei den Neuen Medien zu.25 Insbesondere das Internet bietet umfassende Möglichkeiten des Zugriffs auf pornografische sowie gewalthaltige bis hin zu gewaltverherrlichenden Inhalten. Oft werden hier Kinder und Jugendliche ungefiltert mit Gewalt und sexuellen Inhalten konfrontiert (siehe auch Ziffer 1.4.). Die Wirkungen können zwar nicht generalisierbar und monokausal erklärt werden, da von komplexen Wirkungszusammenhängen auszugehen ist, bei denen vor allem auch die Persönlichkeit und andere Umwelteinflüsse entscheidend sind. Fakt ist allerdings, dass die dauerhafte Rezeption gewaltverherrlichender, gewalthaltiger und pornografischer Inhalte die kognitiven Strukturen der Nutzer beeinflusst.26 Es besteht insbesondere die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche „abstumpfen“ (Stilisierung medialer Vorbilder zur „Normalität“, Desensibilisierung emotionaler Prozesse etc.), wenn sie gewohnheitsmäßig aggressive Inhalte konsumieren. Realistisch empfundene Gewaltdarstellungen entfalten dabei größere Wirkungen.27
Weiterführende Informationen zum Thema Gewalt unter Kindern und Jugendlichen sind insbesondere unter www.stmas.bayern.de/jugend/gewalt sowie bei der Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e. V. unter www.bayern.jugendschutz.de abrufbar.